9. Wirft Maryam ein Licht auf die Unterwerfung zu Gott?

Wir haben bereits über den Vers nachgedacht: „Die Engel sagten: 'O Maryam! Gott verkündet dir die frohe Botschaft von einem Wort, das von Ihm ausgeht: Sein Name ist: Al-Massih, ‘Issa (Jesus), Sohn von Maryam(Sure Die Sippe Imrans 3:46). In dieser Sure heisst es nun, dass dieser frohen Botschaft das Gebet Maryams vorausging: „O Maryam, bete zu deinem Herrn! Wirf dich nieder und verneige dich mit denen, die sich verneigen!“ (S. 3,43).

In seinem Kommentar zum Engelsgruss fragt sich der iranische sunnitische Gelehrte Razi (865-925), auch bekannt als Ibn Zakaria oder Rhases: Könnte dies die Niederwerfung und Verbeugung sein, die das Gebet der Menschen in der Moschee kennzeichnen? Er stellt ausserdem die Hypothese auf, dass diese Bewegungen denen des jüdischen Gebets entsprechen. Schließlich stellt er sich vor, daß sich Maryam so sehr niederwirft, dass davon „ihre Füße geschwollen waren und Blut und Eiter herauskamen“.

Viele Muslime stimmen diesen Fantastereien nicht zu. Eiter ist kein Ausdruck von Reinheit. Die Vorstellung, dass Beten das Gehen verhindert (die Füsse sind geschwollen und blutig), ist das Gegenteil der biblischen Erfahrung, in der Moses (Musa) das Volk des Exodus in Bewegung setzte und Jesus (‘Issa) einen Gelähmten aufstehen liess, indem er sagte: „Steh auf, nimm dein Bett und geh!“ (Joh 5:8). Schliesslich ist die Anwesenheit von Maryam an einem Ort, der nach jüdischem Gesetz den Männern vorbehalten ist, seltsam, überhaupt nicht plausibel und widerspricht der gesamten Symbolik der Tempelarchitektur, wo der sichtbare Unterschied zwischen dem Männerhof und dem Frauenhof den unsichtbaren Unterschied verständlich macht zwischen Gott, der offenbart, und der Menschheit, welche die Offenbarung empfängt.

Als Freidenker betrachtet Razi die Propheten als Hochstapler. Als Gnostiker sieht er die Schöpfung nicht als göttliches Geschenk an, und er glaubt, dass die Mutterschaft (Zeugung) den dramatischen Sturz einer Seele auslöst. Das bringt Razî dazu, alle Frauen zu verachten und besonders Maryam.

Davon abgesehen wirft Razis Interpretation dieser Sure eine Frage auf: Ist Maryam wirklich das Bild für eine Unterwerfung, die dem eigentlichen Sinne des Wortes „Islam“ entspricht? Ist sie Gott unterwürfig wie es islamische Soldaten sind, deren Verhalten Razi sah? Oder handelt es sich um etwas ganz anderes?

Eine christliche Mystikerin lässt Maryam, die Reinste, sagen:
„Im Haus von Nazareth brannte ich mehr denn je in dem Wunsch, das Wort möge auf die Erde herabsteigen, und ich betete darum.../ Das Licht, das in mich eindrang, war so mächtig, dass mein Menschsein davon so verschönert wurde; es wurde von dieser Sonne des göttlichen Willens so vollkommen durchdrungen, daß ich nicht anders konnte, als himmlische Blumen hervorzubringen. Ich fühlte, dass der Himmel sich zu mir herabsenkte, während die Erde meines Menschseins sich emporhob; und Himmel und Erde umarmten einander, versöhnten sich, tauschten den Kuss des Friedens und der Liebe aus; die Erde bereitete sich darauf vor, den Keim hervorzubringen, der den Gerechten, den Heiligen bilden würde; und der Himmel öffnete sich, um das Wort in diesen Keim hinabsteigen zu lassen. Ich stieg immerzu von meiner himmlischen Heimat herab und wieder hinauf: Ich warf mich in die Arme meines himmlischen Vaters und sagte von ganzem Herzen zu ihm: "Heiliger Vater, ich kann nicht mehr! Ich brenne. Und während ich brenne, spüre ich eine schreckliche Kraft in mir, die mich vernichten will. Ich möchte dich mit den Ketten meiner Liebe binden, um dich zu entwaffnen, damit du nicht länger zögerst. Auf den Flügeln meiner Liebe will ich das göttliche Wort vom Himmel auf die Erde bringen". Und da Gott von meinen Tränen und meinem Flehen überwältigt war, versicherte er mir: ‚Meine Tochter, wer kann dir widerstehen? Du hast gewonnen! Die Göttliche Stunde ist nahe. Kehre auf die Erde zurück und handle weiterhin mit der Kraft meines Willens. Alles wird erschüttert werden, Himmel und Erde werden einander den Kuss des Friedens geben‘ “ [1].

 

[1] Luisa PICCARRETA, Die Königin des Himmels im Reich des göttlichen Willens auf Erden, Resiac, Montsûrs 2000, S. 84-86 (18. Tag).