Wäre Jesus ein „walad Allah“, wäre er ein äusseres Geschöpf ausserhalb von Gott und gleichzeitig fleischlich mit Gott verwandt, was absurd und ein Widerspruch in sich ist. Das Wort Sohn „Ibn“ ist, wie wir gesehen haben, gerade nicht auf die fleischliche Bedeutung von „walad“, Kind, reduziert.
Aber wenn man dies nicht verstanden hat, könnte man sich vorstellen, Gott würde am Tag des Gerichts daran erinnern: „Issa (Jesus), Sohn von Maryam, hast du zu den Menschen gesagt: Haltet mich und meine Mutter für zwei Götter, neben Gott?“ (Sura Der gedeckte Tisch 5:116).
Zusätzlich zu diesem Irrtum entsteht eine weitere irrige Vorstellung, welche die Identität von „meine Mutter“ in diesem Vers betrifft. Im Aramäischen ist der Heilige Geist ein Wort weiblichen Geschlechts und wird mütterlich konnotiert. Der heilige Aphraates (bekannt als der Weise von Persien) befürchtet zum Beispiel, dass ein Mann, wenn er heiratet, Gott, „seinen Vater, und den Heiligen Geist, seine Mutter“,(1) vergisst.
In der assyrisch-chaldäischen Kirche (aramäische Sprache) bezieht sich der Ausdruck „Mutter Jesu“ auf den Heiligen Geist (ein weibliches Wort), und dieser Ausdruck ist auch heute noch gebräuchlich. Dies ist natürlich die Bedeutung des Ausdrucks „Mutter von ‘Issa (Jesus)“ im Sure Al Ma’ida ‒ Der gedeckte Tisch: „Haltet mich und den Heiligen Geist für zwei Götter, neben Gott?“ (S. 5:116) Die Ironie des Verses bezieht sich nicht auf die Erfindung, Maryam neben Gott zu stellen, sondern auf die Tatsache, dass ‘Issa (Jesus) selbst am Tag des Gerichts die Bühne betritt, um die Christen (hier Araber) anzuklagen, weil sie an ihn und den Heiligen Geist geglaubt haben! Dass seine "Mutter" der Heilige Geist ist, war vielen alten muslimischen Auslegern noch bekannt. Tabari, al-Baydawi, al-Zamahsari, al-Jalalayn und andere, weniger bekannte, weisen alle darauf hin, daß sich dieser Vers 116 auf den Heiligen Geist und nicht auf die Jungfrau Maria bezieht (2).
Das bedeutet auch, dass sich dieser Vers an christliche Araber wendete, die übrigens die gleichen christlichen theologischen Begriffe verwendeten wie die persische, chaldäische Welt, die fast tausend Kilometer von Mekka entfernt ist. Aber darüber zu sprechen ist nicht politisch korrekt: Wenn ein Koranvers nur durch einen syrisch-aramäischen Kontext erklärt werden kann, wie konnte der Islam dann so weit entfernt entstehen?(3)
Was die Christen betrifft, so ist es ganz offensichtlich falsch zu behaupten, dass sie eine Göttin Maryam, eine Gefährtin Allahs, eine Gottheit, anbeten. Sie verehren diejenige, die als Jungfrau Jesus zur Welt gebracht hat. Es ist eine königliche Mutterschaft: Maryams Kind stammt von David (Daoud) ab, und seine Herrschaft wird kein Ende haben. Ihr Kind (walad) ist das „Wort“ das von Got kommt (ihr Sohn-Ibn)! Erstaunen, Verwunderung und Entzücken über eine solche Mutterschaft führen zur Verehrung von Maryam, der Reinsten.
(1) APHRAATE, Les exposés [geschrieben zwischen 336 und 345], trans. Marie-Joseph Pierre, Sources Chrétiennes n° 359, Paris, Cerf, 1989, t.2 S.791
(2) Vgl. AZZI Joseph, Le prêtre et le prophète : aux sources du Coran, Maisonneuve & Larose, Paris 2001, S.169
(3) Zu diesem Thema lesen Sie: Patricia CRONE & Michael COOK, Hagarismus. Die Entstehung der islamischen Welt, 1977. Christoph LUXENBERG - Die Syro-Aramäische Lesart des Koran (2004) ‒ der Koran geht teilweise auf Texte zurück, die aus dem Aramäischen (Syrischen) ins Arabische übertragen wurden. Markus Groß / Karl-Heinz Ohlig (Hg.), Vom Koran zum Islam (Schriften zur frühen Islam-geschichte und zum Koran, Band 4, 2009) ‒ zum syrischen Kontext Kontext der Abfassung des Korans und zur Fortschreibung oder Umformulierung im 8. und 9. Jahrhundert.